Strategien für eine komplexe Welt: Cynefin – Gastbeitrag von Sven Körber

In einer eigentlich komplexen Umgebung weiterhin komplizierte Strategien anzuwenden, führt zu lähmenden Analyseschleifen und endlosen Expertengutachten. Die Antwort eines auf Kompliziertheit getrimmten Systems auf Veränderung ist es, mehr Ressourcen in die Analyse zu investieren. Das Management sollte genau das unterbinden und in schnelle, parallele Experimente investieren, um zu erkennen, wohin der Kompass wirklich zeigt.

Gastartikel von Sven Körber. Erstmals publiziert 2014 auf www.infinit.cx

Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit, einen viertägigen Workshop mit Dave Snowden (@snowded) und Michael Chaveldave von Cognitive Edge in Kopenhagen zu besuchen. Der Titel: „Cynefin and Sensemaking“. Der Workshop war sehr dicht und nachhaltig erhellend. Er hat mir einen neuen Bezugsrahmen aufgezeigt, unter dem sich Unternehmensstrategie, Unternehmensführungführung, Projektmanagement und Wissensmanagement denken lassen. An diesem Erkenntnisgewinn möchte ich Sie mit diesem Artikel teilhaben lassen.

Es hat sich in Kopenhagen gezeigt, dass die Terminologie für Nicht-Muttersprachler eine Hürde sein kann. Damit der Einstieg leichter fällt, habe ich zentrale Begriffe ins Deutsche übersetzt und verwende eigene Metaphern. Die Methode ist von Cognitive Edge, eventuelle Übertragungsfehler sind meine.

DAS CYNEFIN-MODELL

Cynefin: Aussprache „Kü-NE-win“. Walisisch für „Lebensraum“ oder „Ort der Zugehörigkeit“. Das Modell ist keine Kategorisierungs-Matrix, man sollte es eher als Karte der Lebensräume von Systemen verstehen. Es hilft dabei, für den jeweiligen Kontext die richtige Strategie zu wählen, und nicht einfach in die gewohnte Richtung zu laufen.

Die fünf Regionen, in denen sich Systeme bewegen können:

1. Offensichtliche Region: Es ist jedem unmittelbar und ohne Expertenwissen klar, wie er von A nach B kommt, indem er dokumentierte Best Practice anwendet. Reine Bürokratie fällt in diese Region. Sie ist gefährlich, weil verkrustete Strukturen leicht ins Chaos stürzen können. Dafür steht sinnbildlich die Klippe zwischen der offensichtlichen und der chaotischen Region.

2. Komplizierte Region: Experten können mittels ihres Fachwissens verlässlich herausfinden, wie sie von A nach B kommen. In dieser Region können Organisationen strukturiert auf die Straße bringen, was früher in der chaotischen Region geboren und in der komplexen kultiviert wurde.

3. Komplexe Region: Was gestern galt, ist heute schon veraltet und hat sich aufs Neue angepasst. Man kann nur kennenlernen, woran man aktuell ist, wenn man das System mit schnellen, parallelen Experimenten im Moment anregt. Die meisten sozialen Systeme sind komplex. Hier gilt es, Attraktoren und Grenzen im Moment zu managen. Manchmal steht auch an, zu entscheiden, welche Aktivitäten in die komplizierte Region verschoben werden sollten, damit sie effizienter durchlaufen werden.

4. Chaotische Region: Alles geht, es gibt keine Regelmäßigkeiten. Was geschieht, erscheint zufällig. Durchgangsstadium, in dem meist ein Akteur die Initiative ergreift, z. B. um Grenzen zu setzen, die das System zurück in die komplexe Region bewegen. Die oberste Direktive hier ist, schnell zu handeln, bevor jemand anderes dem System seinen Stempel aufdrückt. Kann auch bewusst für kreative Problemlösung genutzt werden – solange man vorab einen Plan hat, wie man zurück in die komplexe Region kommt!

5. Verwirrte Region: Es ist unklar, wo auf der Landkarte man gerade unterwegs ist. Auch dies ist ein Übergangszustand, bis sich der Nebel lichtet und der Weg in einen Bereich klarer wird.

TYPISCHE FALLSTRICKE: 


Der Cynefin-Ansatz, so wie er sich bei Cognitive Edge darstellt, ist im besten Sinne pragmatisch: Nicht die Utopie zukünftigen Erfolges steht im Fokus! Es gilt vielmehr, die Systeme dort abzuholen, wo sie gerade stehen und Schritt für Schritt das evolutionäre Potenzial des Moments zu entfalten. Die Natur der Lösung sollte dabei immer zum System passen.

Die Auswirkungen, wenn man dies nicht beachtet:

1. In einer eigentlich komplexen Umgebung weiterhin komplizierte Strategien anzuwenden, führt zu lähmenden Analyseschleifen und endlosen Expertengutachten. Die Antwort eines auf Kompliziertheit getrimmten Systems auf Veränderung ist es, mehr Ressourcen in die Analyse zu investieren. Das Management sollte genau das unterbinden und in schnelle, parallele Experimente investieren, um zu erkennen, wohin der Kompass wirklich zeigt. Und das unabhängig von etablierten, eingefahrenen Mustern, die Experten häufig vertreten. Eine Empfehlung, falls noch unklar ist, ob ein System sich in der komplexen oder der komplizierten Region befindet: Wenn Sie so agieren, als wäre es komplex, verlieren Sie höchstens ein wenig Effizienz. Die Ergebnisse schneller, paralleler Experimente geben die Richtung verlässlich vor.

2. In einer komplexen oder komplizierten Umgebung Strategien aus der offensichtlichen Region anzuwenden führt dazu, dass ein bürokratischer Dschungel detaillierter und widersprüchlicher Vorschriften entsteht. Die Antwort eines bürokratischen Systems auf Veränderung ist tendenziell mehr Bürokratie. Überkontrollierte Systeme bilden oft Schatten-Systeme heraus, die die Organisation nachhaltig schädigen. Das Management sollte daher jegliche Überkontrolle erkennen und abbauen.

3. Nicht zu erkennen, dass ein System gefährdet ist, in die chaotische Region zu kippen. Offensichtliche Systeme haben genau diese Tendenz, da ihr evolutionäres Potenzial wegrationalisiert wurde. Die offensichtliche Region ist also sehr gefährlich; das Management sollte daher genau entscheiden, ob es sein Business hierhin führen möchte.

4. Nicht schnell genug zu erkennen, dass das System gerade in die chaotische Region gekippt ist. Die Gefahr besteht darin, dass ein Vakuum entsteht, und ein fremder Akteur neue Regeln etabliert, die nicht im Sinne des Unternehmens sind.

KOMPLEXITÄT ERFORDERT ES, WIE EIN RISIKOKAPITALGEBER VORZUGEHEN
  • Die Handlungssequenz für die komplexe Region ist sondieren–wahrnehmen–reagieren.
  • Sondieren heißt, ein Portfolio konsistenter, paralleler, kurzer, risikoarmer Experimente zu planen, durchzuführen und deren Ergebnisse zu bewerten. Nur so wird deutlich, welche Attraktoren und Grenzen im System relevant sind, also was passiert, wenn man eine bestimmte Richtung einschlägt.
  • Jedes Experiment sollte konsistent sein, also zumindest eine logisch und sprachlich klar nachvollziehbare Hypothese mitbringen.
  • Da es immer eine Handvoll oder mehr Experimente gibt, ist zu erwarten, dass einige davon scheitern. Auch das Scheitern ist wichtige Information – stigmatisieren Sie das Scheitern solcher Experimente auf keinen Fall!
  • Da die Experimente als risikoarm geplant sind, sollten auch in unkonventionelle, naive und kontra-intuitive Experimente Teil des Portfolio sein – wenn sie dies versäumen, vergeben Sie eine wichtige Chance für Innovation.
EFFEKTIVE EINGRIFFSMÖGLICHKEITEN, WIE MAN KOMPLEX-ADAPTIVE SYSTEME GÜNSTIG BEEINFLUSST
  • Attraktive Elemente unterstützen (catalyze attractors), in die die Akteure hineinfallen wie Himmelskörper in ein schwarzes Loch mit großer Schwerkraft. Beispiel: Einer Gruppe Kindern einen Fußball zuzuwerfen strukturiert ihre Interaktionen untereinander verlässlicher, als Ihnen genau zu erklären, warum Bewegung gut für sie ist.
  • Neue Grenzen ziehen (establish boundaries), von denen die Akteure abprallen. Klare Verhaltensgrenzen aufbauen, deren Übertretung auch schmerzhaft sanktioniert wird.
  • Bestehende Grenzen umdefinieren oder lockern, insbesondere, wenn das System überkontrolliert ist (overconstrained), ihm sozusagen die Luft zum Atmen abgeschnürt wurde. Zu starre Grenzen werden leicht brüchig und zersplittern – mit chaotischen Auswirkungen.
AUFBAU VON ELASTIZITÄT (RESILIENCE) IM UNTERNEHMEN WIRD ZUR SCHLÜSSELAUFGABE
  • Redundanz als adaptives Potenzial bereithalten, um systemeigene Ineffizienzen zu kompensieren. Vorsicht bei naiver Effizienz-Optimierung – sonst werden genau die Ressourcen eingespart, die im Krisenfall das Ruder herumreißen können.
  • Schnelle Eingreiftruppen aufbauen und für den Ernstfall trainieren. Einfache, universell gültige Leitlinien einprägen.

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